Welche Rolle spielt soziale Gerechtigkeit im Hinblick auf Cannabis?
In vielen Ländern war Cannabis über Jahrzehnte komplett verboten – und die soziale Gerechtigkeit blieb auf der Strecke: Ganze Bevölkerungsgruppen wurden durch die Prohibition benachteiligt. Mit Gesetzen zur sozialen Gerechtigkeit soll nun sichergestellt werden, dass Menschen aus Gemeinschaften, die durch das Cannabis-Verbot und diskriminierende Strafverfolgung unverhältnismäßig stark geschädigt wurden, in die neue legale Cannabis-Industrie einbezogen werden. Einige politische Entscheidungsträger:innen arbeiten mittlerweile daran, der Kritik zu begegnen, dass Menschen aus den üblichen gesellschaftlichen Mehrheiten (Weiße, Männer, Wohlhabende etc.) legale Cannabis-Unternehmen gründen und davon profitieren, dass sie die gleichen Dinge tun, für die ihre weniger glücklichen Nachbar:innen noch vor wenigen Jahren verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Diese Marginalisierung und Kriminalisierung betraf überdurchschnittlich oft Minderheiten, Frauen, Menschen mit geringem Einkommen, People of Color und Medizinal-Cannabispatient:innen. Dieses Ungleichgewicht lässt sich am Beispiel der Frauen und Minderheiten sogar mit Zahlen zu den Beschäftigungsverhältnissen in der gerade entstehenden Cannabis-Industrie ablesen: Der Prozentsatz der von Frauen und Minderheiten besetzten Führungspositionen in der US-Cannabisbranche ist zwischen 2019 und 2021 gesunken, wie aus einem Bericht hervorgeht, der jetzt von MJBizDaily veröffentlicht wurde. Laut dem Bericht “Women & Minorities in the Cannabis Industry” (Frauen und Minderheiten in der Cannabis-Branche) liegt der Anteil der Frauen in Führungspositionen im Jahr 2021 mit 22,1 % unter dem Durchschnitt der gesamten US-Wirtschaftslandschaft mit 29,8 %.
Soziale Gerechtigkeit in der Cannabispolitik: Ziele und Einschränkungen
Als übergeordnete Ziele einer gerechten Cannabispolitik gelten:
- Erfolgreicher und fairer Übergang vom illegalen zum legalen Markt
- Aktive Förderung der sozialen (und wirtschaftlichen) Gleichheit der Antragsteller:innen
- Ethnische und geschlechtliche Vielfalt unter den Lizenznehmer:innen
Ganz oben auf der Liste steht nach dem langjährigen, fast vollständigen Verbot von Cannabis auch der Abbau von Stigmata. Cannabislizenznehmer:innen, die sich aufgrund ihrer Vergangenheit mehr soziale Gerechtigkeit wünschen , sind oft mit einem Stigma behaftet: . Einige in der Branche sehen diese Lizenznehmenden als weniger qualifiziert oder weniger fähig an als andere Antragstellende, was dazu führen kann, dass es für Antragstellende aus dem Bereich der sozialen Gerechtigkeit schwierig ist, Finanzmittel, Partnerschaften und andere Ressourcen zu sichern, die für den Erfolg in der Branche erforderlich sind. Tatsächlich werden durch diese Sichtweise diejenigen, die unter dem Krieg gegen Drogen gelitten haben, erneut zu Opfern gemacht, indem man ihnen eine Chance verwehrt, sie kennenzulernen und ihre Ideen für eine bessere Branche aufzugreifen.
Ein Faktor, der zu diesem Stigma beiträgt, ist der Eindruck, dass diese Antragsteller:innen im Genehmigungsverfahren bevorzugt behandelt werden. Obwohl Programme zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit darauf abzielen, historisch marginalisierten Gemeinschaften Chancen zu bieten, sind einige der Ansicht, dass sie bestimmten Antragstellenden einen unfairen Vorteil verschaffen.
Factsheet
Factsheet: Social Equity in der Cannabispolitik
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Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit in der Cannabispolitik
Wie könnten Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit in der Cannabispolitik aussehen? Diese Frage hat sich das International Drug Policy Consortium (IDPC) gestellt. Das Netzwerk aus über 190 NGOs enthält unter anderem auch zahlreiche europäische Organisationen, die eine Reform der Drogenpolitik anstreben. Alle gemeinsam setzen sie sich für eine Drogenpolitik ein, die soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte fördert.
Um seinem gemeinsamen Ziel einen Schritt näher zu kommen, hat das IDPC 20 Grundsätze für eine verantwortliche rechtliche Regulation von Cannabis formuliert. Auch für uns in Deutschland bieten sie eine sinnvolle Leitlinie bei der Formulierung eines Social-Equity-Programms. Dafür sollten wir uns unter anderem folgende Fragen stellen:
- Wie kann eine erfolgreiche Amnestie im Lichte des Betäubungsmittelgesetzes (in Deutschland: BtMG §29a, 30,30a) aussehen?
- Welche unterschiedlichen Hürden bei der Lizenzierung (z.B. Kosten für die Antragstellung, Vorstrafen, Vorlaufkosten) gibt es für marginalisierte Gruppen im Vergleich zu nicht marginalisierten Gruppen?
- Wie können Menschen mit Betäubungsmittel-Delikten rehabilitiert werden, z.B. durch Lehrstellen, Ausbildung zum Fachpersonal, usw.?
Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit: US-amerikanische Staaten als Vorbild
Lange waren die USA durch ihren War on Drugs für eine besonders restriktive Cannabispolitik bekannt. Mittlerweile hat sich das Blatt teilweise gewendet: Bundesstaaten wie New York, Illinois, Kalifornien und rund 20 weitere US-Bundesstaaten haben die Verwendung von Cannabis zum Freizeitgebrauch ab 21 Jahren legalisiert, Minnesota und Ohio stehen kurz davor. Hier setzen sich zahlreiche staatliche sowie nicht-staatliche Akteure für eine sozial gerechte Cannabispolitik ein. Lediglich die Bewohner:innen Oklahomas haben sich explizit gegen eine Freigabe von Cannabis für den Freizeitgebrauch ausgesprochen.
Es gibt kein “1FitsAll”-Modell” von Social Equity, das für alle Länder passen würde. Es muss in jedem Land betrachtet werden, welche Gruppen durch die Cannabisprohibition ausgegrenzt und unterdrückt wurden. Erst dann ist es möglich, ein auf die Gegebenheiten angepasstes Programm zu entwickeln. Für die Cannabis Legalisierung in Deutschland können wir uns in Sachen Social Equity also einiges abschauen. Zwei Beispiele aus Kalifornien und Michigan:
Staatliche Unterstützung in Kalifornien
Durch die kalifornische Behörde für Cannabis-Kontrolle (DCC) kann der Erlass (und/oder Stundung) der staatlichen Lizenzgebühren für Cannabis-Geschäfte beantragt werden und
technische Unterstützung bei der Navigation durch das staatliche Lizenzierungsverfahren in Anspruch genommen werden. Der Bundesstaat unterstützt die Inhaber von Equity-Geschäften auch direkt durch Cannabis Equity Tax Credits. Auf lokaler Ebene stellt Kalifornien Zuschussmittel für lokale Gleichstellungsprogramme bereit. Diese Programme bieten Unterstützung für diejenigen, die durch die Kriminalisierung von Cannabis geschädigt wurden.
Regierungsprogramme in Michigan
Das Social Equity Program der Cannabis Regulatory Agency in Michigan sieht vor, förderungswürdigen Teilnehmer:innen am Social Equity Program alle Lizenzgebühren zu erlassen, die planen, ein Cannabis-Unternehmen in einer “unverhältnismässig benachteiligten” Gemeinde zu gründen und zu betreiben, oder in der Vergangenheit wegen Cannabis-bezogenen Straftaten verurteilt wurden.
Drei Aspekte von Social Equity im Hinblick auf Cannabis
Wie man das Konzept der sozialen Gerechtigkeit in der Cannabispolitik effektiv in Gesetze und Bestimmungen umwandeln kann, zeigt auch eine Studie der Ohio State University. Konkret nennt sie dafür drei Pfeiler:
1. Reform des Strafrechts
Eine umfassende Wiedergutmachung in der Cannabispolitik beinhaltet die Wiederherstellung der verletzten Rechte. Sollte das nicht möglich sein, wird die Anwendung von Maßnahmen zur Entschädigung, Genugtuung und Nichtwiederholung gefordert.
Konkret könnten nach einer Reform des Strafrechts frühere Cannabisdelikte automatisch gelöscht und Personen mit entsprechenden Vergehen aus dem Gefängnis freigelassen werden. Auch die Vergabe von Lehrstellen oder die Ausbildung von Fachkräften wären mögliche Teile der Rehabilitation.
Beispiel aus den USA: Das Last Prisoner Project
Als nationale, unparteiische, gemeinnützige Organisation setzt sich das Last Prisoner Project für eine Reform der Cannabis-Strafjustiz ein. Neben Lobby-Arbeit für entsprechende gesetzliche Änderungen umfasst das Engagement der NGO auch das Einreichen von Gnadeninitiativen.
Zusätzlich unterstützt das Last Prisoner Project betroffene Personen nach ihrer Freilassung mit den nötigen Werkzeugen und Ressourcen, um ihr Leben erfolgreich wieder aufzubauen und eine Beschäftigung in der legalen Cannabisbranche zu finden.
2. Reinvestition eines Anteils der durch die Legalisierung verfügbaren Gelder
Nach Berechnung von Forschenden der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf geht man davon aus, dass der deutsche Staat durch eine Legalisierung von Cannabis zum Freizeitgebrauch jährlich 4,7 Milliarden Euro einnehmen könnte. Zusammensetzen würde sich die Summe aus zusätzlichen Einnahmen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einerseits und dem Einsparen von Ausgaben andererseits.
Ähnlich wie in den USA könnte man diese Mehreinnahmen indirekt in die Social Equity-Programme investieren. Dies ist allerdings in Deutschland so direkt nicht möglich. Allgemeines Ziel sollte hier aber auch sein, mit entsprechenden Massnahmen Prävention und Jugendschutz zu fördern.
3. Sinnvoller Rahmen für die Lizenzierung der Cannabis-Industrie
Für die Lizenzierung muss zunächst ermittelt werden, welche Teilnehmenden Anspruch auf Förderung haben. Dafür bieten sich eine Reihe von Kriterien an: Wohnen die Personen in bestimmten benachteiligten, geografischen Gebieten? Wurden sie oder ihre Familienmitglieder in der Vergangenheit wegen Drogen festgenommen oder verurteilt?
Gleichzeitig muss festgelegt werden, welchen Vorteil Social-Equity-Unternehmen im Cannabis-Sektor erhalten können. Denkbar wären:
- Zugänge zu finanziellen Zuschüssen und Darlehen
- Gebührenerlass/-ermäßigung (z. B. Antrags-, Software-, oder Tracking-Gebühren)
- Bevorzugung im Genehmigungsverfahren
Förderung durch staatliche und privatwirtschaftliche Programme in den USA
Auch bei der Reinvestition von Geldern sowie der Lizenzierung lohnt sich der Blick in die USA. Dort gibt es nicht nur staatenübergreifende private Initiativen, sondern auch entsprechende staatliche Förderprogramme. Die Stadt Los Angeles zum Beispiel stellt dafür rund 7,8 Millionen Dollar an Mitteln bereit. Mit diesen unterstützt sie Antragsteller:innen unter anderem mit Pro-Bono-Rechtsdienstleistungen und Programmen für Starthilfe.
Fazit
Social Equity ist nicht gleich soziale Gleichheit – so viel ist klar. Im Bereich der Cannabispolitik haben Jahrzehnte der Prohibition zur Unterdrückung und Marginalisierung ganzer Personengruppen geführt. Soll die Legalisierung von Cannabis fair und nachhaltig gestaltet werden, muss die Cannabispolitik diese Punkte berücksichtigen und gegensteuern.
Wichtig ist aber auch: In Sachen Hinblick auf Social Equity gibt es keine Patentlösung. Zuerst muss jedes Land für sich feststellen, welche Gruppen durch die Cannabisprohibition in welchem Maß ausgegrenzt und unterdrückt wurden. Nur so kann ein Programm entwickelt werden, das die gesellschaftlichen Realitäten berücksichtigt.
Nach dem heutigen Stand des ersten Eckpunktepapiers der Bundesregierung vom Oktober 2022 soll das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis zum Freizeitgebrauch erst nach vier Jahren auf seine gesellschaftlichen Auswirkungen geprüft werden. Soll die Legalisierung von Cannabis sozial gerecht ablaufen, müssen aber von Anfang an entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Daher formulieren wir einen dringenden Appell an die Politik, schon heute die Massnahmen für eine faire Cannabisindustrie von morgen vorzubereiten. Staatliche wie private Initiativen in den USA machen vor, wie es gehen könnte.
Für einen vertiefenden Blick empfehlen wir Gestalter:innen von Social-Equity-Programmen den Blick auf unser Factsheet:
Alles auf einen Blick: Unser Factsheet zur Cannabis-Legalisierung
FAQ
Was heißt Social Equity?
Social Equity beschäftigt sich mit der Schaffung sozialer Gerechtigkeit. In der Ausgestaltung und Umsetzung sozialer Maßnahmen berücksichtigt das Konzept ausdrücklich die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen betroffener Personengruppen. Zunehmend in den Mittelpunkt rückt Social Equity durch die Liberalisierung von Cannabis. Nach einer jahrzehntelangen Verbotspolitik müssen hier Gegenmaßnahmen zur Marginalisierung und Unterdrückung ganzer Personengruppen ergriffen werden.
Wie funktioniert gerechte Cannabispolitik?
Für soziale Gerechtigkeit in der Cannabispolitik gibt es keine Patentlösung. Zuerst muss jedes Land für sich ermitteln, welche Gruppen durch die Cannabisprohibition in welcher Form ausgegrenzt und unterdrückt wurden. Nur so können Programme für Social Equity entwickelt werden, die wirklich den gesellschaftlichen Realitäten entsprechen.
Was sind sozial gerechte Beispiele für eine sozial gerechte Cannabispolitik?
In Sachen sozial gerechter Cannabispolitik lohnt sich der Blick auf US-Bundesstaaten wie Kalifornien, New York oder Illinois. Dort setzen sich sowohl staatliche als auch private Initiativen für eine sozial gerechte Cannabispolitik ein. NGOs wie das Last Prisoner Project zeigen Konzepte auf, an denen sich eine sozial gerechte Cannabispolitik in Deutschland orientieren kann.
Wie kann soziale Gerechtigkeit erreicht werden?
Im Gegensatz zu sozialer Gleichheit berücksichtigt das Konzept der sozialen Gerechtigkeit die unterschiedlichen Ausgangslagen verschiedener Personen. Anstatt jede:n gleichermaßen zu fördern, werden Personen hier möglichst individuell unterstützt. Indem man bei der Erstellung und Umsetzung von Maßnahmen die unterschiedlichen Ausgangslagen von Personen berücksichtigt, kann man im Ergebnis also für mehr Gerechtigkeit sorgen.
Was ist soziale Gerechtigkeit bei Cannabis?
Die jahrzehntelange Politik der Cannabis-Prohibition hat zur Unterdrückung und Marginalisierung ganzer Personengruppen geführt. Bei der Legalisierung von Cannabis muss dieser Punkt berücksichtigt werden. Der Weg zu einer sozial gerechten Cannabispolitik führt über drei mögliche Säulen: DieReform des Strafrechts,die Reinvestition eines Anteils der Gelder und einen sinnvollen Rahmen für die Lizenzierung.
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