Cannabistherapie: Wer sie bekommt und wem sie helfen kann

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Über 80.000 Menschen sind in Deutschland als Cannabistherapie-Patient:innen geführt. Das Spektrum der Indikationen ist hierbei vielfältig: Unter anderem chronische Schmerzen, Schlaf- und Angststörungen, aber auch Symptome von Krebserkrankungen, wie Übelkeit und Erbrechen, werden damit behandelt. Unter welchen Voraussetzungen eine Therapie beantragt werden kann und wie es um den aktuellen Stand bei weiteren Erkrankungen, wie z.B. ADHS oder Multipler Sklerose, bestellt ist, lesen Sie hier.

Allgemeine Gesetzliche Rahmenbedingungen für ein CAM-Rezept

Cannabisarzneimittel (CAM) dürfen in Deutschland seit etwa 5 Jahren offiziell verschrieben werden. Voraussetzungen dafür sind: 

  • Eine schwerwiegende Erkrankung liegt vor
  • Standard-Therapien stehen nicht zur Verfügung stehen oder können nicht zur Anwendung kommen
  • Die Aussicht auf positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf und die Verbesserung der Lebensqualität ist gegeben

Bisher umfasst das Spektrum der möglichen Medikationen vor allem Fertigarzneimittel wie Sativex oder Canemes, Isolate wie Dronabinol, oder getrocknete Cannabisblüten (Cannabis flos) und Cannabisextrakte aus kontrolliertem Anbau – letztere sind als ölige Lösungen erhältlich. Sowohl die Wirkstoffe THC als auch CBD werden medizinisch eingesetzt, in manchen Cannabisarzneimitteln (z.B. Sativex oder Cannabis flos) treten sie kombiniert auf.

Mehrere Dutzend Erkrankungen werden in Deutschland mit CAM behandelt

Bei den Krankheiten selbst werden verschreibenden Ärztinnen und Ärzten zwar vom Gesetzgeber keine konkreten Vorschriften gemacht – doch um die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen zu erwirken, ist der:die Mediziner:in verpflichtet, die Therapieentscheidung im Antrag zu begründen. Eine ausreichende Studienlage zur konkreten Indikation ist hierbei hilfreich – doch bisher noch viel zu selten gegeben. 

Eine schmerzlindernde oder entkrampfende Wirkung von Cannabis scheint jedoch mittlerweile unbestritten.
Dass das Spektrum der tatsächlichen Einsatzgebiete aber deutlich diverser sein könnte, legen Statistiken nah. Insgesamt werden mittlerweile allein die cannabisbasierten Medikationen in Deutschland bei etwa 40 Erkrankungen eingesetzt: Außer chronischen Schmerzen etwa auch bei Angst- und Schlafstörungen oder Begleiterscheinungen von Krebs oder HIV. Cannabisarzneimittel gelten vielen als sichere Alternative zu starken Schmerzmitteln wie Opioiden – die bei Überdosierung sogar zu Todesfällen führen können. In einer retrospektiven Studie konnte  ein Zusammenhang zwischen der Gabe von CAM und der Reduktion von Opiatmedikationen nachgewiesen werden. Dieser wurde von der Begleiterhebung des BfArM zumindest für die Cannabisblüten-Patient:innen bestätigt.

Aktuell verkehrsfähige Cannabisarzneimittel auf einen Blick:

Fertigarzneimittel:

Sativex / Nabiximols: Hier handelt es sich um ein oromukosales Spray, in dem Cannabisextrakte enthalten sind: CBD und THC kommen zu (fast) gleichen Anteilen vor. Das Medikament wird vor allem zur Linderung von Spastiken durch Multiple Sklerose eingesetzt.  Das Mundspray war in Deutschland seit 2011 erhältlich, in der Schweiz wurde es 2014 zugelassen. 

Canemes: Die Kapseln enthalten Nabilon, ein synthetisch hergestellter Wirkstoff, der THC imitiert. Häufig werden sie dazu eingesetzt, Chemotherapie induzierte Übelkeit und Erbrechen zu lindern.

Epidyolex:  Hierbei handelt es sich um fast reines CBD (> 98%). Erhältlich ist es als orale, ölige Lösung. Zugelassen ist es für seltene Epilepsieformen bei Kindern (wie z. B. Lennox-Gastaut-Syndrome und Dravet-Syndrome). 

 

Ausgangsstoffe für Rezepturarzneimittel:

Dronabinol: Dronabinol ist ein Isolat, d.h. reines THC. Die dickflüssige, harzartige Substanz kann sowohl synthetisch als auch natürlich hergestellt werden. Sie wird in der Regel in der Apotheke zu Kapseln oder anderen Rezepturen weiterverarbeitet. Zum Einsatz kommt es in der Schmerztherapie, z.B. für Krebspatient:innen oder bei Spastiken und neurologischen Erkrankungen. 


Cannabisblüten: Hierbei handelt es sich um getrocknete Cannabisblüten in pharmazeutischer  Qualität. Sie enthalten sowohl CBD als auch THC (in variablen Anteilen), sowie alle weiteren natürlich vorkommenden Cannabinoide. Sie sind als Tees oder zur Inhalation geeignet. Häufig kommen sie gegen neuropathische und Tumorschmerzen zum Einsatz. Weitere Indikationen können ADHS, entzündliche Darmerkrankungen oder Nebenwirkungen von Chemotherapie sein. 

 

CBD: Cannabidiol (CBD) ist ein natürlich vorkommendes Cannabinoid, das aber auch synthetisch hergestellt wird. Als Pulver isoliert kann es für die Herstellung von oralen Lösungen verwendet werden. Beim Wirkstoff vermutet man eine entkrampfende und angstlösende Wirkung. Daher kommt es häufig bei psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen zum Einsatz. 


Cannabisextrakte: Als Cannabisextrakt gilt alles, was man aus der Cannabispflanze extrahieren kann: Das können die Wirkstoffe THC und CBD, aber auch z.B. Terpene sein (möglicherweise haben Terpene im Zusammenspiel mit anderen Cannabinoiden eine gesonderte Wirkung für ADHS). Erhältlich sind sie allesamt als orale Lösungen. Die Extrakte werden im gesamten Behandlungsspektrum eingesetzt.

Cannabis Schmerztherapie

Weltweit sind etwa 15% der Bevölkerung von chronischen Schmerzen betroffen. Doch  fasst der Begriff ein an sich recht weites Feld: Denn hierunter können Nervenschmerzen genauso fallen wie Migräne oder Begleiterscheinungen unterschiedlichster eigenständiger Krankheiten, wie etwa Krebs, HIV oder auch Morbus Crohn.
In Deutschland bildeten chronische Schmerzen mit 76,4% den mit Abstand häufigsten Verschreibungsgrund für Cannabisarzneimittel bei Patient:innen, deren Therapiekosten durch die gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurden: Das ergab die Abschlussauswertung des BfArM.  Anzumerken ist hierbei: Cannabinoide können grundsätzlich meist keine Schmerzfreiheit herstellen. Die Schmerzen können bei Gabe von Cannabisarzneitmitteln jedoch unter Umständen als stark vermindert wahrgenommen werden – und die Lebensqualität infolgedessen als erhöht. 

In verschiedenen Studien und Umfragen liegt der Satz der Therapie-Abrecher:innen bei etwa einem Drittel, während etwa 70% der Patient:innen von einer Verbesserung ihrer Lebensqualität berichten. 

Doch die fehlende Trennschärfe, um was für einen chronischen Schmerz genau es sich eigentlich handelt, kann an der Stelle in die Irre führen: Während zum Beispiel eine gute Wirkung bei neuropathischen Schmerzen belegt ist, beschränken sich die Erfolge bei etwa muskulären Schmerzen bisher häufig auf anekdotische Erfahrungsberichte.
So hält auch die Deutsche Schmerzgesellschaft fest, dass Akut- und Gewebeschmerzen weniger auf Cannabinoide ansprechen. Bei neuropathischen Schmerzen jedoch, wie auch bei Spastiken durch Multipler Sklerose, könnten Cannabisarzneimittel eine Option sein.

Cannabistherapie bei Multipler Sklerose

Bei Multipler Sklerose (MS) gilt die Evidenz bisher von fast allen Indikationen als eine der stichhaltigsten. So war zur Behandlung der typischen Symptome mit Sativex schon vor der Legalisierung von medizinischem Cannabis ein Cannabisarzneimittel am Markt, das die schmerzhaften Spastiken lindern helfen sollte.
Eine Studie aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Schluss, dass Wirkunterschiede zwischen den verschiedenen Cannabisarzneimitteln bestehen könnten: Während die Sprays Spastiken zu reduzieren scheinen, führten orales Cannabisextrakt sowie synthetisches Tetrahydrocannabinol eher zu einer durch die Patient:innen gefühlten Verbesserung denn zu einer durch behandelnde Ärztinnen oder Ärzte konkret messbare. Dennoch scheinen sowohl das Spray, als auch Oralextrakte und synthetisches THC hilfreich in der Schmerzreduktion. Eine Studie, die insgesamt zu klein war, um aussagekräftig zu sein, konnte im Vergleich zum Placebo auch bei Cannabisblüten eine Linderung der Symptome erkennen.

Cannabistherapie bei ADHS

Anekdotisch berichten ADHS-Betroffene häufig von Verbesserungen ihrer Beschwerden durch den Einsatz von Cannabis: Viele geben an, nach Marihuana-Konsum besser fokussieren zu können und insgesamt ruhiger zu werden. Das scheint auch ein Fallbericht des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universtitätskliniken Heidelberg 2008 zu bestätigen: Im Fall des untersuchten ADHS-Patienten hätte Cannabiskonsum sogar zu einer merklichen Verbesserung des Fahrverhaltens geführt.

Doch auch, wenn immer wieder einmal Studien nahelegen, dass sich etwa die Inhalation von Cannabis positiv auf die Linderung der ADHS-Symptomatik auswirken könnte – die wissenschaftlich belastbare  Evidenz zum Thema bleibt bisher spärlich.
So äußerte sich der Selbsthilfeverband ADHS Deutschland e.V. im Jahre 2017 eher skeptisch zu Cannabisarzneimitteln. Aus einem Positionspapier geht hervor, dass man weder der Definition für „schwer krank“ in Bezug auf ADHS zustimmen möchte, noch der Meinung ist, dass herkömmliche Standardtherapien bei der Behandlung nicht ausreichend seien. Von einer klaren Empfehlung von Cannabisarzneitmitteln wird daher ausdrücklich abgesehen.

Auch eine systematische Meta-Studie aus dem Jahre 2019 (veröffentlicht 2020) konnte nur einen Fall in ihrem Corpus ausmachen, in dem die Kombination von Cannabinoiden und Terpenen eine Linderung von ADHS-Symptomen nahelegte. Allerdings konnte mittlerweile eine israelische Studie einen Zusammenhang zwischen der Reduktion der herkömmlichen ADHS-Medikation durch Cannabiskonsum nachweisen. Die Evidenzgenerierung scheint hier also – einmal mehr – dringendster Auftrag.

Cannabistherapie bei Angstzuständen

Kontrovers diskutiert wird auch der Einsatz von Cannabisarzneimitteln gegen Angstzustände. Einerseits wird aufgrund der psychotropen Eigenschaften von THC strikt davon abgeraten, Menschen mit Disposition zu Psychosen oder Schizophrenie – und den damit einhergehenden paranoiden Episoden – cannabisbasierte Medikationen zu verabreichen. Gleichzeitig scheint CBD anxiolytische Eigenschaften zu besitzen, die gerade bei sozialen Phobien verfangen können. So konnte eine Studie nachweisen, dass CBD die Angst lindern kann, vor Publikum zu sprechen. In einer retrospektiven Untersuchung von Daten einer psychiatrischen Klinik verbesserten sich die Angstwerte bei 79.2% der Patient:innen, während die Qualität des Schlafes bei 66.7% der Proband:innen stieg.

Auch eine doppelt verblindete preliminäre Studie, in der die Gehirnaktivität nach der Gabe von CBD gemessen wurde, kam zu dem Schluss, dass CBD soziale Phobien positiv beeinflussen kann. Und die bereits erwähnte Meta-Studie aus dem Jahr 2020 erwähnt Cannabidiol ihrerseits im Kontext mit der Verringerung vor allem sozialer Ängste.
Und doch: Auch bei Angststörungen ist die Studienlage insgesamt noch sehr weit davon entfernt, eine valide Basis für eine routinemäßige Behandlungsempfehlung zu stellen.

Fazit:

  • Cannabisarzneimittel werden in Deutschland bei über 40 Indikationen verwendet
  • Die Gabe von CAM überwiegt bisher klar bei Schmerztherapien – im Hinblick auf den möglichen Behandlungserfolg ist klar zu differenzieren, um welche Art von Schmerz es sich handelt: Während die Wirksamkeit von CAM bei Neuropathien als belegt gilt, sind bei anderen Schmerzformen noch weitere Studien erforderlich 
  • Bei zahlreichen Indikationen gibt es zwar Hoffnung und anekdotische Hinweise, dass Cannabisarzneimittel den Patient:innen helfen könnten – doch bisher ist die Studienlage noch zu dünn, um konkrete Empfehlungen abzugeben
  • Es gibt Hinweise darauf, dass CBD soziale Phobien drosseln könnte
  • Der Forschungsbedarf ist dringend. Felder, auf denen die Evidenzgenerierung systematisch vorangetrieben werden sollte, sind u.a.: Verschiedene Formen der chronischen Schmerzen, ADHS und diverse Angststörungen

 

FAQ

Wogegen hilft medizinisches Cannabis?


Die Frage kann oft nur individuell beantwortet werden: Denn nicht alle Personen reagieren auf die Medikation gleich. Insgesamt werden Cannabisarzneimittel jedoch oft bei chronischen Schmerzen etwa bei Multipler Sklerose verschrieben, können aber auch eine entkrampfende Wirkung bei Epilepsie entfalten oder die Begleiterscheinungen von Krebs, wie z.B. Chemotherapie induzierte Übelkeit, mildern.

Welche Ärzte dürfen medizinisches Cannabis verschreiben?


Grundsätzlich ist es jeder Ärztin und jedem Arzt (außer Zahn- und Tiermediziner:innen) mit ordnungsgemäßer und gültiger Approbation erlaubt, Cannabisarzneimittel zu verschreiben. Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen ist jedoch, dass eine schwere chronische Erkrankung vorliegt, bei der andere Therapien nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben, oder die aus medizinischen Gründen nicht zu empfehlen sind.

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