BfArM-Begleiterhebung zu fünf Jahren Cannabis in der Medizin – was sie aussagt und was nicht

Mann liest BfArM-Cannabis-Begleiterhebung am Computer-Bildschirm.
Seit 2017 ist die Verschreibung von Cannabisarzneimitteln in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen legal. Eine der Auflagen für die verordnenden Ärztinnen und Ärzte war es, anonymisierte Datensätze zur Cannabis-Therapie an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weiterzuleiten. 21 000 Behandlungen von gesetzlich versicherten Personen wurden ausgewertet – das Ergebnis erlaubt interessante Einblicke in verschiedene Parameter wie demographische Eckdaten, therapierte Indikationen und die subjektiv empfundene Verbesserung der Lebensqualität. Einen Rückschluss auf Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln lässt sie jedoch nicht zu.

Ergebnisse auf einen Blick: 

  • Durchschnittsalter der Behandelten liegt bei 57 Jahren 
  • Häufigster Einsatz von Cannabisarzneimitteln (CAM) in der Schmerztherapie 
  • Blüten als Darreichungsform werden von Patient:innen am positivsten bewertet
  • Insgesamt berichten 70 Prozent der Patient:innen von einer Verbesserung der Lebensqualität durch die Gabe von Cannabisarzneimitteln

Cannabisarzneimittel: Wozu eine Begleiterhebung?

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist eine Bundesoberbehörde unter dem Bundesministerium für Gesundheit. Ärzt:innen, Apotheker:innen, Biolog:innen, Jurist:innen und weitere relevante Berufsgruppen arbeiten hier an der Zulassung von Medikamenten sowie der Verbesserung von Arzneimittel- und Patient:innensicherheit. 
Die Begleiterhebung zur Cannabis-Therapie wurde für den Zeitraum zwischen April 2017 und März 2022 vom BfArM durchgeführt, um auf eine Basis für die Bewertung der CAM-Verordnung zurückgreifen zu können. Erfasst wurden dafür allerdings lediglich die GKV-Versicherten – Privatversicherte und Selbstzahler:innen kommen darin nicht vor. Aufgrund der Limitierungen bei der Informationserfassung kann die Erhebung keine klinischen Studien ersetzen. So wurde etwa durch die Anonymisierung die Möglichkeit zu Rückfragen versperrt; zudem geht das BfArM von einer Verzerrung u. a. durch Underreporting einiger Ärzt:innen aus. Dennoch konnten anhand der Erhebung einige wichtige Tendenzen ermittelt werden.

Insgesamt verfolgte die Begleiterhebung vier Hauptziele: 

  • Grundlage für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), um die zukünftige Übernahme der Behandlungskosten im Rahmen einer CAM-Therapie nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) V zu regeln
  • Monitoring von Nebenwirkungen und Verträglichkeit
  • Abschätzung der Häufigkeitsverteilung von Indikationen, die eine Behandlung mit CAM begründen
  • Grundlage für die Planung klinischer Studien

Mehrzahl der Behandelten weiblich

Folgende Angaben waren im Rahmen der Erhebung zu machen:

  • Patient:innen-Alter zum Zeitpunkt des Therapiebeginns und Geschlecht
  • Diagnose der Versicherten
  • Dauer der Erkrankung oder Symptomatik 
  • Angaben zu vorherigen Therapien, einschließlich Beendigungsgründen 
  • Angaben zum Vorliegen einer Erlaubnis zur ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabis
  • Fachrichtung der verschreibenden Vertragsärzt:innen
  • Genaue Bezeichnung der verordneten Leistung
  • Dosierungen (inklusive Dosis-Anpassungen), sowie konkrete Art der Anwendung
  • Therapiedauer mit den verordneten Präparaten
  • Angabe parallel verordneter Leistungen (z. B. weitere Arzneimittel) 
  • Auswirkung der Therapie auf den Krankheits- oder Symptomverlauf
  • Angaben zu Nebenwirkungen der verordneten Therapien 
  • Angabe von Gründen für den (ggf. vorzeitigen) Abbruch der Therapie
  • Angaben zur Entwicklung der Lebensqualität der Versicherten

Die Datenerfassung erfolgte online. 52,5 Prozent der Daten kamen von Anästhesiolog:innen. Allgemeinmediziner:innen lieferten 15 Prozent, gefolgt von Neurolog:innen (12,7 Prozent). Die innere Medizin lieferte 8,4 Prozent der erhobenen Datensätze und die rehabilitative Medizin vier Prozent. Anästhesist:innen verschrieben bevorzugt Fertigarzneimittel oder Cannabisextrakte, während Allgemeinmediziner:innen überdurchschnittlich häufig zu Cannabisblüten neigten. Verschiedene Applikationsformen wurden getrennt voneinander ausgewertet.

Die behandelten Personen waren im Schnitt vor ihrer Cannabis-Therapie bereits acht Jahre aufgrund der bestehenden Symptomatik behandelt worden. Durchschnittlich waren sie 57 Jahre alt und zu 54 Prozent weiblich. Eine Ausnahme bildeten die Cannabisblüten-Patient:innen: Hier waren 67,4 Prozent männlich und im Mittel 45,5 Jahre alt.

Chronische Schmerzen häufigste Verschreibungsursache

Am häufigsten wurde Dronabinol verordnet (62,2 Prozent), gefolgt von Blüten (16,5 Prozent), Sativex (13 Prozent) und Extrakten (acht Prozent). Nabilon wurde so gut wie nicht verschrieben. Die Menge der Cannabisextrakte auf Rezept hat sich im Laufe des gesamten Beobachtungszeitraums im Vergleich zum Anfangswert um insgesamt das Siebenfache gesteigert.
Chronische Schmerzen waren mit 76,4 Prozent die mit Abstand häufigste Verschreibungsursache waren – unter den mit Extrakten behandelten Personen betrug der Anteil sogar 90 Prozent. Spastiken lagen bei einem Anteil von 9,6 Prozent, Anorexie und Wasting bei 5,1 Prozent und Übelkeit oder Erbrechen bei 2,2 Prozent. Insgesamt lag bei 14,5 Prozent der Patient:innen eine Tumorerkrankung vor, bei 5,9 Prozent eine Multiple Sklerose.

Cannabisblütentherapie: Nebenwirkung „Euphorie“

Bei Cannabisblüten-Patient:innen lag der Schmerzpatient:innenanteil mit 67 Prozent signifikant unter dem Gesamtschnitt. Häufiger verschrieben wurde das Präparat bei Tic-Störungen, wie z. B. dem Tourette-Syndrom, ADHS und Clusterkopfschmerz. Auch mit Sativex vorbehandelte Erkrankte mit Multipler Sklerose zählten zu den Empfänger:innen. Mit Cannabisblüten behandelte Personen bewerteten den Therapieerfolg allgemein als positiv: Blütenpatient:innen berichteten doppelt so häufig von einer Verbesserung wie die Vergleichsgruppen. Dreimal häufiger als bei anderen Präparaten wurde außerdem die Nebenwirkung „Euphorisierende Wirkung“ genannt. Begleittherapien mit Opioiden waren bei Blüten-Patient:innen um bis zu 15,7 Prozent seltener als bei Patient:innen mit anderen Präparaten. Das BfArM warnt hier jedoch vor voreiligen Schlüssen: Unterschiedliche Darreichungsformen und grundverschiedene Indikationen erschweren ohne weitere kontrollierte klinische Studien jeden medizinisch validen Vergleich.

70 Prozent der Behandelten berichten von einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität

Insgesamt wurde zwar etwa ein Drittel der Therapien innerhalb der ersten zwölf Monate abgebrochen: 20,2 Prozent verstarben in diesem Zeitraum und 38,5 Prozent beklagten eine mangelnde Effektivität. In 25,9 Prozent der Fälle wurde die Behandlung wegen unerwünschter Nebenwirkungen beendet: Vor allem bei dem Fertigarzneimittel Sativex wurden vielfältige Beschwerden wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit, Übelkeit, Konzentrationsstörungen aufgeführt. Insgesamt fiel auf, dass Frauen bei allen Präparaten eher von Nebenwirkungen betroffen waren als Männer. Die Behandlung mit Cannabisblüten wurde im Vergleich deutlich seltener vorzeitig eingestellt – und der Abbruch wurde seltener mit unerwünschten Begleiterscheinungen begründet. Übergreifend berichteten jedoch 70 Prozent der Behandelten von einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität durch die Gabe von Cannabisarzneimitteln.

Fazit: Klinische Studien zu CAM unerlässlich

Die Begleiterhebung bietet interessante Einblicke in die letzten fünf Jahre seit der Legalisierung von Cannabisarzneimitteln im Jahr 2017 – und wirft gleichzeitig einige Fragen auf. Das BfArM besteht ausdrücklich auf der Notwendigkeit zur Durchführung weiterer klinischer Studien, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln zu überprüfen. 

Grundsätzlich steht etwa die Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Funktionalität des Endocannabinoidsystems im Raum. Aber auch den Hinweisen auf eine potenziell mögliche Reduktion von Opioiden durch die Gabe von Cannabisarzneimitteln sollte nachgegangen werden. Im Detail ist die gesamte Erhebung auf der Webseite des BfArM nachzulesen.

Beitragsbild: Sanity Group / Mockdrop; Screenshot: BfArM.de