Sind Pilotprojekte der erste Schritt zur vollen Cannabis-Legalisierung?

Sanity Group Blog Pilotprojekte zur Legalisierung
Das “Zwei-Säulen-Modell” der Bundesregierung zur Cannabis-Legalisierung sieht als zweite Säule regional begrenzte "Modellvorhaben mit kommerziellen Lieferketten" vor. Über einen Zeitraum von fünf Jahren sollen Unternehmen dann in lizensierten Fachgeschäften Cannabis an Erwachsene verkaufen dürfen. Auf der Grundlage der aus dem Modellversuch resultierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse will die Politik erst dann über eine volle Legalisierung von Cannabis als Genussmittel entscheiden. Sind diese Pilotprojekte der erste Schritt zur vollen Legalisierung des Freizeitkonsums von Cannabis?

Im März letzten Jahres veröffentlichte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir ein Video, mit dem er auf Schutzwesten aufmerksam machen wollte, die freilaufende Hühner vor Habicht-Attacken schützen können. Im Video sieht man ihn in einem Park stehen, sein Briefing-Team zupft noch an ihm herum, als die Dreharbeiten jäh unterbrochen werden – allerdings nicht durch einen spontanen Greifvogelangriff von oben: ein auf einem Skateboard vorbei rollender junger Mann ruft ihm die Frage zu: “Wann Bubatz legal?”
Özdemir weiß sofort, was gemeint ist: “Wenn es nach mir geht, bald”, lacht er, “Wir haben es ja versprochen in der Koalitionsvereinbarung”, entgegnet er.

Knapp ein Jahr später, im April, wurde dann deutlich, was von diesem Vorhaben der Cannabis-Legalisierung in Deutschland in der politischen Realität übrig bleiben wird: eine Legalisierung light. Am 12. April 2023 stellten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Özdemir ihre Pläne zur teilweisen Legalisierung von Cannabis vor. Das überarbeitete Eckpunktepapier 2.0 sieht ein Zwei-Säulen-Modell¹ vor. Dieses beinhaltet die Streichung von Cannabis von der Liste der Betäubungsmittel, die kontrollierte Abgabe von Cannabis über Vereine sowie den privaten Eigenanbau von bis zu drei weiblichen, blühenden Pflanzen im Rahmen der Säule 1. Im nächsten Schritt – als Säule 2 – soll der Verkauf über lizensierte Fachgeschäfte in Pilotprojekten getestet werden.

Einen kompakten Überblick zu den Pilotprojekten haben wir hier zusammengestellt.

Doch zuvor noch ein paar Worte zur Säule 1:

Säule 1: Entkriminalisierung, Eigenanbau und Cannabis Social Clubs

Die erste Säule soll den nicht-kommerziellen Anbau im privaten Bereich und im Rahmen von Cannabis Social Clubs regeln. Dazu liegt nun seit Anfang Juli ein Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums vor. Generell sollen der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenbedarf und der Eigenanbau von höchstens drei Pflanzen straffrei werden. Faktisch handelt es sich um eine Entkriminalisierung des Anbaus und des Besitzes von Cannabis zum Eigengebrauch.


Die Clubs wiederum sollen eine Organisationsstruktur zum gemeinschaftlichen Anbau von Cannabis bilden. Im ersten Schritt können Erwachsene bundesweit nicht-gewinnorientierte Vereine zum gemeinschaftlichen Anbau von Cannabis gründen. Diese Vereinigungen dürfen maximal 500 Mitglieder haben. In diesen Cannabis Clubs dürfen die Mitglieder gemeinschaftlich Cannabis zu Genusszwecken anbauen und auch nur an Mitglieder für den Eigenkonsum abgeben. Das Mindestalter ist 18 Jahre. Eine Mitgliedschaft in mehreren Vereinen ist verboten.

Säule 2: Regionales Modellvorhaben mit “kommerziellen Lieferketten” für Cannabis

Die zweite Säule würde im nächsten Schritt auf dem Weg zu einer bundesweiten Legalisierung regional begrenzte “Modellvorhaben mit kommerziellen Lieferketten” vorsehen. Diese Pilotprojekte sind als erster Schritt zu einer evidenzbasierten, progressiven Drogenpolitik gedacht. Unternehmen würde damit die Produktion, der Vertrieb und die Abgabe von Genusscannabis in Fachgeschäften an Erwachsene in einem lizenzierten und staatlich kontrollierten Rahmen ermöglicht. Über einen Zeitraum von fünf Jahren dürfen Unternehmen in lizenzierten Fachgeschäften Cannabis an Erwachsene verkaufen. Das Modellvorhaben würde dann wissenschaftlich begleitet und erstreckte sich auf bestimmte Kreise und Städte in mehreren Bundesländern. Einige Städte und Bundesländer haben schon ihr Interesse an der Teilnahme bekundet (siehe unten), doch zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, welche davon wirklich am Pilotprojekt teilnehmen .
Mit dieser Säule könnten die Auswirkungen einer kommerziellen Lieferkette auf den Gesundheits- und Jugendschutz sowie den Schwarzmarkt wissenschaftlich untersucht werden. Der Gesetzesentwurf zur Säule 2 steht allerdings noch aus, viele Rahmenbedingungen für Pilotprojekte sind noch unklar.

Diese Städte bieten sich als Modellregion an

“Beworben” haben sich schon diverse Kandidaten, die gerne als Modellregion ausgewählt würden: Aus einer WELT-Umfrage unter 35 deutschen Städten geht hervor, dass bereits jetzt mindestens elf deutsche Städte offen dafür sind, künftig als Cannabis-Modellregion zur Verfügung zu stehen. Bremen teilte mit, man stehe einer Teilnahme als Modellregion grundsätzlich offen gegenüber. Hannover ist ebenfalls an einer Teilnahme „sehr interessiert“. Bonn stehe dem Vorhaben „positiv gegenüber“, auch Tübingen, Leipzig, Münster und Schwerin. Darmstadt teilt mit, die Option eines Modellversuchs sei Teil des Koalitionsvertrags. Wiesbaden fasste einen entsprechenden Beschluss in der Stadtverordnetenversammlung 2021. Außerdem haben Frankfurt und Offenbach im Rahmen der Umfrage ihr Interesse signalisiert.


Orte wie Berlin, Hamburg, Köln, Dortmund, Düsseldorf und Stuttgart teilten mit, dass sie sich zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht mit einer Tendenz äußern können, wenn auch die einzelnen Berliner Bezirke Lichtenberg und Kreuzberg-Friedrichshain schon entschieden haben, teilnehmen zu wollen.

Andere Städte wissen hingegen schon jetzt, dass sie mit Sicherheit kein Cannabis im Pilotprojekt verkaufen wollen: Dazu gehören etwa Städte wie Nürnberg, Freiburg, Aachen, Essen und Eisenach. Neben Bayern hat sich auch NRW als Bundesland ablehnend zur Teilnahme am Modellversuch geäußert, obwohl in beiden Fällen mehrere Bezirke und Städte ihr Interesse an der Teilnahme bekundet haben. Fraglich ist an dieser Stelle, wie die Entscheidungskompetenzen dabei verteilt sind: Könnte ein Bundesland ein Veto einlegen, wenn es einen kommunalen Stadtratsbeschluss zur Teilnahme gibt? Diese Details müssen vom Gesetzgeber noch geklärt werden

Geplante Pilotprojekte zur legalen Abgabe von Cannabis in den Niederlanden und der Schweiz

Die Key Facts zum niederländischen Pilotprojekt, Stand Sommer 2023:

Schon 1976 hatte sich die niederländische Regierung zu einem halbherzigen Schritt durchringen können: Gemäß der bis heute umstrittenen “Coffee Shop”-Richtlinie wurde nicht die gesamte Wertschöpfungskette legalisiert und staatlich kontrolliert, sondern nur der Verkauf und Konsum toleriert, die Produktion und der Handel blieben verboten. Die Belieferung der Coffeeshops ist somit illegal. Der Handel wird über kriminelle Netzwerke abgewickelt. Doch nun will man in den Niederlanden den ganzen Schritt gehen: Schon 2017 gab es erste Ansätze, diesen aktuellen Graubereich abzuschaffen.

Als Kompromiss einigten sich die Parteien im niederländischen Parlament auf einen Gesetzentwurf für Modellversuche. Doch erst 2019 wurden die regulatorischen Rahmenbedingungen offiziell verabschiedet. 140 Unternehmen bewarben sich seinerzeit um Lizenzen, von denen 40 nach vorheriger Prüfung für ein Losverfahren zugelassen wurden. Aus diesem Pool wurden dann zehn Unternehmen im Dezember 2020 ausgelost, die legal für die Coffee Shops in den zehn Gemeinden als Modellregion Cannabis produzieren sollen. Insgesamt sollten 73 Coffee Shops ausschließlich legal produziertes Cannabis vertreiben – als sozialwissenschaftliches Experiment.

Doch seitdem kam es zu massiven Verzögerungen: Kapitalgeber wurden teilweise 18 Monate überprüft, zudem weigerten sich Banken, den Unternehmen Geschäftskonten bereit zu stellen, Versicherungen verweigerten ebenfalls die Zusammenarbeit. Der Start wurde mehrmals verzögert. Voraussichtlicher Beginn ist nun: Herbst 2023. Insgesamt soll das Experiment vier Jahre dauern. Ein dichtes Track ’n‘ Trace System soll garantieren, dass kein legal produziertes Gras in den illegalen Markt gerät. Alle Unternehmen agieren Umsatzsteuer befreit. Die meisten Unternehmen produzieren ausschließlich Indoor. Alle Batches müssen von einem unabhängigen Labor geprüft werden, bevor sie in den Handel gelangen.

Noch 2024 will die Politik zudem ein erstes Zwischenfazit ziehen. Da es sich um ein “wissenschaftliches” Pilotprojekt handelt, stände die legale Wertschöpfungskette auch im Einklang mit der Single Convention und europäischem Recht.

Schweiz: Pilotversuche mit Cannabis zu “Genusszwecken”

Schon vor drei Jahren, im September 2020 hat das Parlament der Schweiz eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) verabschiedet, die seit Mai 2021 in Kraft ist. Mit dieser Revision schafft die Politik mit dem neuen Artikel 8a BetmG die gesetzliche Grundlage für die Durchführung von örtlich und zeitlich begrenzten, wissenschaftlichen Modellvorhaben mit Cannabis zu “Genusszwecken”.

Maximal werden 5.000 Personen pro Pilotprojekt akzeptiert. Der Projektzeitraum soll höchstens fünf Jahre betragen. Das Cannabis soll möglichst in der Schweiz nach Bio-Verordnung produziert werden, bei weiterem Bedarf sollen auch Importe möglich sein. Es soll eine Obergrenze von 20 Prozent THC-Gehalt für die Cannabisblüten und die weiteren, verarbeiteten Angebote an Cannabisprodukten gelten.

Die Teilnehmer:innen der Pilotprojekte müssen als Grundvoraussetzung ihren Wohnsitz im jeweiligen Kanton haben und regelmäßig Cannabis konsumieren. Die Konsument:innen müssen volljährig sein und dürfen nicht an Kontraindikationen leiden. Auch eine Schwangerschaft ist ein Ausschlusskriterium. Die Abgabe erfolgt in Fachgeschäften, und nur gegen ein Entgelt, mit einem bestimmten Verkaufslimit pro Monat von 10 Gramm THC für jedes Mitglied. Die Menge in Gramm pro Monat errechnet sich aus dem THC-Gehalt der Ware. Die Weitergabe an Dritte, Werbung und Konsum im öffentlichen Raum außerhalb der Fachgeschäfte bleiben verboten.
Die Voraussetzungen für die Durchführung der Pilotversuche sowie die Einzelheiten zum Gesuchverfahren sind in der Verordnung über Pilotversuche nach dem Betäubungsmittelgesetz (BetmPV) geregelt.

Deutschland: Pilotprojekte noch in diesem Jahr?

Der Beginn der Pilotprojekte in Deutschland ist für den Sommer 2024 geplant. Abhängig ist dieser Zeitplan allerdings davon, wann die Inhalte der Säule 2 tatsächlich in Gesetzesform vorliegen, und ob das Gesetzespaket EU-notifizierungspflichtig ist und ob der Bundesrat zustimmungspflichtig sein wird. Erst dann können die zukünftigen Player im deutschen Cannabis-Markt überhaupt konkret planen, wie und wo sie in den Aufbau von Abgabestellen investieren wollen, und welche Beschränkung ein Gesetz ihnen dann auferlegen wird.

Fazit

  • Die Pilotprojekte könnten ein erster Schritt zu einer evidenzbasierten, progressiven Drogenpolitik sein.
  • Erfahrungen anderer Länder wie den Niederlanden oder der Schweiz bieten wertvolle Hinweise auf die Umsetzung von Pilotprojekten in Deutschland.
  • Der Gesetzesentwurf zur Säule 2 steht noch aus, viele Rahmenbedingungen für Pilotprojekte sind noch unklar, z.B. welche Rahmenbedingungen der Gesetzgeber festlegt, welche Städte, Bundesländer und Regionen teilnehmen und welche Aufnahme- und Ausschlusskriterien für potentielle teilnehmer:innen der Pilotprojekte gelten würden?

FAQ

Wo gibt es bereits Pilotprojekte zur Abgabe von Genusscannabis in Europa?
Die ersten Pilotprojekte laufen in den Niederlanden und der Schweiz.

 

Wann beginnt das Genusscannabis-Pilotprojekt in Deutschland?
Der Gesetzentwurf zur zweiten Säule, die regionale Modellprojekte mit kommerziellen Lieferketten vorsieht, soll in der zweiten Jahreshälfte 2023 vorgestellt werden. Dann erfolgen voraussichtlich die Einreichung des Gesetzentwurfs bei der EU-Kommission und der Start des EU-Notifizierung-Prozesses³: Gemäß (EU-)Richtlinie 2015/1535 wird geprüft, ob das nationale Recht mit dem EU-Recht in Einklang steht.
Im Laufe des ersten Halbjahres 2024 wird das Feedback der EU-Kommission erwartet. Davon ist abhängig, wie es weitergeht.

 

Was ist das Eckpunktepapier zur Abgabe von Genusscannabis?
Das überarbeitete Eckpunktepapier 2.0 vom April 2023 sieht ein Zwei-Säulen-Modell vor. Dieses beinhaltet die Streichung von Cannabis von der Liste der Betäubungsmittel, die kontrollierte Abgabe von Cannabis über Vereine (Cannabis Clubs) sowie den privaten Eigenanbau von bis zu drei Pflanzen. Im nächsten Schritt – als Säule 2 – soll der Verkauf über lizensierte Fachgeschäfte in Modellregionen getestet werden.

 

Wird Eigenanbau in Deutschland legalisiert?
Ja, dies ist Teil der Säule 1 des geplanten Gesetzesvorhabens. Es ist vorgesehen, dass der Eigenanbau von höchstens drei Pflanzen straffrei bleiben soll. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums soll sich das Bundeskabinett Mitte August 2023 mit dem Gesetzentwurf zum Eigenanbau von Cannabis befassen.

Quellen

Beitragsbild: Unsplash.com von Alexander Grey