Es war einmal eine Zeit, in der war die Natur die größte Apotheke am Platz. Aus dieser Zeit stammt eines der ältesten Bücher über Heilpflanzen, das Shennong Bencao Jing. Cannabis spielt darin eine wichtige Rolle. Als Arzneimittel gegen Verstopfung, Gicht oder Rheuma. Auch die altägyptische Medizin kennt die Pflanze: Im ältesten erhaltenen Papyrus zu medizinischen Fragen, dem Papyrus Ebers, wird sie als probates Mittel gegen Parasitenbefall angepriesen. Die ayurvedische Heilkunde erweitert das Behandlungsspektrum auf Indikationen von Bluthochdruck über Grünen Star bis hin zu Schlafstörungen. Und in der westlichen Medizin des 19. Jahrhunderts wird Hanf unter anderem gegen Cholera und Tetanus eingesetzt.
Europa entdeckt medizinischen Mehrwert neu
Dieses ungewöhnlich breite Einsatzspektrum der Hanfpflanze hält man vor Tausenden von Jahren noch für magisch. Mittlerweile gibt es dafür eine ganz rationale Erklärung: ihre komplexen pharmakologischen Eigenschaften. Und doch: 1972 ergeht für Cannabis in Deutschland ein vollständiges Verbot. Erst 2017 wird der medizinische Einsatz wieder erlaubt. Auf der chronologischen Zeitachse liegt Deutschland damit im europäischen Vergleich eher mittig: In den Niederlanden erfolgte die Legalisierung zu medizinischen Zwecken schon 2003, in Österreich 2008, in Dänemark 2011, in Italien, Tschechien und Rumänien 2013 und in Polen 2016. In Frankreich war bis 2021 lediglich Sativex erlaubt und in Spanien läuft die Debatte über weitere Legalisierungsschritte noch. Das deutsche Gesetz gilt vielen als insgesamt liberalstes in Europa: Denn die Verschreibung ist potenziell durch Ärzt:innen fast aller Fachgebiete möglich – und die Krankenkasse übernimmt die Kosten. Soweit, so theoretisch.
Cannabis auf Rezept: In der Praxis viel Aufwand
Denn in der Praxis ist die Gabe von Cannabis an Schwerkranke prinzipiell zwar erlaubt – doch wer wann als schwer krank gilt, wird im Gesetzestext selbst nicht näher definiert. Voraussetzung für ein Rezept ist ferner, dass eine „allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung“ entweder nicht zur Verfügung steht – oder vom behandelnden Arzt ausgeschlossen wird. Außerdem war dieser noch bis Ende März 2022 verpflichtet, den gesamten Verlauf der Behandlung schriftlich zu dokumentieren und die Daten anonymisiert ans Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weiterzuleiten. Der bürokratische Aufwand ist damit für die jeweiligen Praxen deutlich höher als bei herkömmlichen Therapien.
Die Studienlage – wenig berauschend
Bei welchen Krankheiten Cannabis verschrieben werden darf, ist gesetzlich nicht festgelegt. Was zunächst nach viel Freiheit klingt, birgt seine Tücken: Denn so richten sich Ärzt:innen nach der aktuellen Studienlage – und die ist nicht in jedem Bereich berauschend. Während die Evidenz bei Spastiken und chronischen Schmerzen als ausreichend gesichert gilt, sind Indikationen wie das Tourette-Syndrom, Epilepsie oder entzündliche Darmkrankheiten noch in Diskussion. Nicht zuletzt, weil dazu relevante Studien fehlen. Hier gilt es, mittels weiterer intensiver Forschung Abhilfe zu schaffen, um Mediziner:innen ein verantwortliches Handeln zum Wohle ihrer Patient:innen zu ermöglichen.
Daten liefern bisher unvollständiges Bild
Die Begleiterhebung des BfArm dokumentiert die von der gesetzlichen Krankenkasse genehmigten Rezepte für Cannabis-Präparate: Schmerzpatient:innen stellen hier 2021 knapp 73 Prozent der Verschreibungen. Spastiken liegen mit 10,3 Prozent direkt dahinter, während entzündliche Darmerkrankungen oder das Tourette-Syndrom mit etwa einem Prozent beinahe das Schlusslicht bilden. Nicht dokumentiert sind hier hingegen privat versicherte Cannabis-Therapien. Auch Selbstzahler:innen, die für ihre Medikation mangels Kostenübernahme selbst aufkommen, tauchen in dieser Statistik nicht auf. Solche Daten würden jedoch wichtige Rückschlüsse erlauben: Zum Einen darüber, wie es um das reale Volumen der Cannabis-Therapien bei welcher Indikation bestellt ist. Zum Zweiten aber könnte man daraus ableiten, was die Patient:innen selbst als lindernd empfinden: Kann man doch davon ausgehen, dass Menschen nur selbst bezahlen, was ihnen auch wirklich hilft.
Kostenübernahme: Wenn die Ausnahme zur Regel wird
Denn tatsächlich gestaltet sich das Kostenthema in der Praxis nicht immer ganz so geschmeidig wie auf dem Papier: Eigentlich gilt, dass die gesetzlichen Krankenkassen nur in gut begründeten Ausnahmefällen das Recht haben, die Kostenübernahme abzulehnen. Doch erleben Therapiewillige regelmäßig die Abweisung ihrer Anträge. Und das obwohl ein großer Teil Betroffener berichtet, dass privater oder medizinischer Cannabiskonsum ihre Leiden bereits stark lindern konnte. Dafür, dass Cannabisprodukte den Menschen zu helfen scheinen, könnte der große Andrang auf die Apotheken sprechen, trotz der vielen Hürden. Allein von 2018 bis 2020 stieg das Marktvolumen um 300 Prozent auf 60.000 Patient:innen an.
Nur fünf Jahre nach der Legalisierung von Medizinalcannabis ist bereits eine Verneunfachung vom Verkauf in Apotheken im Vergleich zu 2017 zu verzeichnen. Allein im Jahr 2021 betrug das Wachstum 43 Prozent. Die nachgefragten Präparate sind hierbei ganz unterschiedlicher Natur: Sie reichen von Fertigarzneiprodukten wie Sativex oder Canemes bis hin zu Isolaten wie Dronabinol, getrockneten Cannabisblüten und Pflanzenextrakten aus kontrolliertem Anbau. Der findet seit 2021 sogar im Inland statt, bildet jedoch nur einen Teil des tatsächlichen Bedarfs ab. Das Importvolumen für medizinisches Cannabis liegt 2021 bei 20.6 Tonnen. Zubringerländer der Deutschen sind u. a. Spanien, Portugal und Dänemark – in erster Linie aber Kanada, dahinter auf dem zweiten Platz liegen die Niederlande.
Medizinalcannabis-Gesetz: Eckdaten auf einen Blick
- Das Gesetz erlaubt die Anwendung von Cannabis zu therapeutischen Zwecken seit 2017.
- Die Verschreibung ist der ärztlichen Einschätzung überlassen. Das Behandlungsspektrum umfasst zahlreiche Indikationen. Die mit Abstand breiteste Anwendung wird bisher jedoch bei Schmerzpatient:innen verzeichnet.
- Medizinisches Cannabis umfasst folgende Darreichungsformen:
a.) Fertigarzneimittel wie Sativex oder Canemes
b.) Isolate wie Dronabinol
c.) getrocknete Cannabisblüten oder Pflanzenextrakte aus kontrolliertem Anbau - Wirkungen sind unter anderem Schmerzstillung, Krampflösung, Stimmungsaufhellung oder Appetitanregung.
- Mögliche Nebenwirkungen variieren je nach Darreichungsform und Dosis. Als häufigste gelten Müdigkeit und Schwindel.
- Menschen mit Vorgeschichte oder Disposition zur Psychose wird von Cannabis-Therapien strikt abgeraten.
- Für eine moderne, valide Datenbasis ist erheblich mehr Forschung vonnöten.
FAQ
Ist in Deutschland medizinisches Cannabis erlaubt?
Ja, das Medizinalcannabis-Gesetz erlaubt seit 2017 die Abgabe von Cannabis zu therapeutischen Zwecken.
Wie funktioniert medizinisches Cannabis?
Medizinisches Cannabis besitzt diverse pharmakologische Eigenschaften. Grundsätzlich docken Cannabinoide im Körper an das Endocannabinoidystem an – doch seine Funktionsweise ist sehr komplex. Welche Medikation wie wirkt hängt daher von verschiedenen Faktoren, wie etwa der Darreichungsform und Dosis des Therapeutikums ab. Zudem reagiert jede Person anders auf Cannabinoide. Medizinische Einzelheiten sind nach dem Heilmittelwerbegesetz mit fachkundigen Ärzt:innen oder Apotheker:innen zu klären.
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